Raue Nächte und dunkle Tage sind im Gefolge eines späten Winters in Haus und Hof eingekehrt – mögen wir sie nicht minder bewirten als die freundlicheren und milder gestimmten Gesandten einer wärmeren Jahreszeit, denn lange Nächte bringen den Segen des Träumens mit sich. Im hellen Kerzenschein und der behaglichen Wärme des Feuers schütteln wir die Dunkelheit ab und entsinnen uns der Geschehnisse eines lange zurückliegenden Herbstes, von denen wir bereits vor Wochen berichtet hatten. Schuldig geblieben sind wir bis jetzt jene Zeilen, die das erzählen, was nun – wo sich die Schatten tanzend erheben im Lichte der zuckenden Flamme – mehr denn je wie ein märchenhafter Traum erscheint.

 

Dichtung und Wahrheit

Teixeira in Bronze

Amarante, die leuchtende Stadt am Rio Tâmega, beherbergt mystische Schätze einer verworrenen Geschichte; sie haucht Poesie aus jedem der altehrwürdigen Steine und in den Gassen, wo einst auch der Schriftsteller Teixeira de Pascoaes wandelte, ist es zuweilen schwierig, Dichtung und Wahrheit auseinander zu halten. Tatsachenbehaftete Erzählung und Märchen verschwimmen auch jetzt zu einer Geschichte, in welcher wir uns selbst als Protagonisten auftreten sehen. Im Spiegellabyrinth unserer Erinnerungen sind es nun zwei Reisende, die vom Sog der unabwendbaren Ereignisse in das örtliche Kunstmuseum gezogen werden. Auch da begegnen sie dem Dichter und, obwohl aus kaltem Metall gefertigt, ist es erneut sein Antlitz, welches sich unauslöschlich in ihrem Bewusstsein festsetzt.

Welcher Art die Zeilen sind, die Teixeira de Pascoaes unsterblich werden liessen, hat sich den Reisenden bisher noch nicht erschlossen, dennoch sind ihre Herzen von Poesie erfüllt und ihre Schritte ergehen im ungezwungenenTakt eines süssen Gedichts. Immer wieder erblicken ihre überforderten Augen jenseits des Flusses das Schloss – wir nennen es so, da kein anständiges Märchen ohne ein solches auskommt, auch ein wahres Märchen nicht. Wie Gold leuchtet der Palast aus den üppig grünen Hängen und singt sein stummes Lied von weltlichen Freuden, denen sich hinzugeben Könige und Adelsleute auserwählt sind aber gewiss keine armen Dichter und bescheidene Reisende. Letztere finden es an der Zeit, die Brücke des Heiligen Gonzales zu überqueren um das andere Ufer des Tâmega zu erkunden.

 

Heisse Kastanien mit Butter und Salz

Langsam beschreibt die Sonne ihre Bahn am blauen Himmel als rastloser Bote der Zeit. Durstige Kehlen gebieten einen wohl letzten willkommenen Aufschub bevor die Reisenden den Heimweg antreten müssen. Auf der Terrasse mit Blick über den Fluss auf die Stadt schmeckt der grüne Wein umso süsser, da die Stunde des Abschieds naht. Doch Wehmut hat keinen Platz an diesem Ort, denn eine exquisite Gesellschaft an den Nebentischen vertreibt jegliche Lethargie mit ihrer ausgelassenen Stimmung. Die Gruppe weckt die Neugier der beiden Reisenden, die immer offen sind für spannende Begegnungen: es scheinen gut situierte Leute zu sein, die sich dennoch an einfachem Essen und ehrlichem Wein zu ergötzen vermögen.

Auch die Reisenden sind fasziniert von den heiteren Wortwechseln, die mit so viel Unbeschwertheit nur im vertrauten Freundeskreise ausgetauscht werden können. Bereits stellen sie Mutmassungen über Herkunft und Berufe dieser Menschen an. Ärzte, das sagt die weibliche Intuition der einen Seite des Paars, obwohl – oder gerade weil? – zwischen den Fingern der Männern fortgeschrittenen Alters praktisch pausenlos Zigaretten glimmen. Und mit der freundlichen Bestimmtheit derer, die zu entscheiden gewohnt sind, wird den Kellnern weitere Order erteilt: Zwischen Kaffee und Aguardente (Tresterschnaps) werden nun geröstete Kastanien gewünscht. Als Maroni ist diese herbstliche Köstlichkeit den Reisenden wohlbekannt aber die Tatsache, dass diese zusammen mit Butter und Salz gereicht werden, bietet nun endlich einen Anlass, mit der Gruppe ins Gespräch zu kommen.

Ein ausgelassener Herr Doktor

Nach probeweisem Betreten des kulinarischen Neulands werden die Reisenden eingeladen auch Wein und Schnaps zu verköstigen, wodurch es ihnen trotz Fremdsprache gelingt, sich umso flüssiger an der Unterhaltung zu beteiligen. Es stellt sich heraus, dass die gesitteten Herren tatsächlich Mediziner sind und mit ihren Ehefrauen aus Porto angereist sind um in diesem Restaurant Tripas (Kutteln) zu essen – was sehr verwunderlich ist, denn eigentlich ist es Porto, welches allgemein als Hauptstadt der Tripas verehrt wird. Aber einseitig verläuft das Gespräch nicht; die Reisenden, die in ihrem anderen Leben Bauern sind, beeindrucken die versammelte Ärzteschaft gar mit ihrem Wissen über Heilkräuter oder vielleicht auch noch mehr durch die Augenhöhe, auf derer sie den in Portugal hoch angesehenen Leuten begegnen.

 

Durch die Blume

Unvergessliche Begegnungen

Derweil der heisse Nachmittag in grossen Schritten seinem milden Ende entgegen eilt, wollen sich die reisenden Bauern bereits mehrfach der mittlerweile sehr familiären Unterhaltung entziehen, doch jegliche Hinweise auf den Verbleib der Hühner im heimischen Hof werden im Keime mit einem neuen Schluck destillierten Traubentresters ertränkt. Der charismatische und nicht gerade leise Mann, der mit seinem einvernehmenden Wesen das Zentrum der Gruppe darstellt, lächelt herausfordernd als der männliche der beiden Reisenden scherzhaft erklärt, dass wohl mit dem nächsten Glas auch gleich eine Hotelübernachtung spendiert werden müsse. Der Reisende mit Poetenseele wendet sich dann wieder einer weiteren Begegnung mit Teixeira de Pascoaes zu – oder genauer gesagt einem seiner Nachkommen, denn es stellt sich heraus, dass die einzige jüngere Dame und Nicht-Medizinerin am Tisch ein Spross der aristokratischen Familie des Dichters ist.

Mit Blumen beschenkt

Es mögen märchenhafte Dinge geschehen, wenn man sich selbst als Figur in einer Geschichte akzeptiert und sich dem Sog der Erzählung nicht widersetzt. Am Ende wird es Blumen regnen und die Tore zum Palast öffnen sich. Ersteres geschieht in Form von Orchideen, die von einem der galanten Herren an alle Damen in diesem Freundeskreis verschenkt werden – darin eingeschlossen die zu Tränen überwältigte Reisende. Letzteres ist von dem Mann mit dem stechenden Blick veranlasst worden: Eine Übernachtung im Märchenschloss für das Paar, jegliche Widerrede ausgeschlossen. Erst mit dem nahenden Abend dämmert es auch den nun Traumreisenden, dass es sich in aller Wirklichkeit so verhält und dennoch lenken sie ihre bescheidene gelbe Kutsche mit einem Hauch von letztem Zweifel durch die Portale des Palastes und parken sie inmitten der Luxuswagen der edlen Leute.

 

Ein goldener Zauber

Eine treue Kutsche

Die strahlende Schönheit und die edle Ausstattung dieses Schlosses würde unsere Reisenden wohl in Ehrfurcht erstarren lassen, doch in diesem Moment wird selbst diese Pracht überboten von der Magie des Augenblicks: Menschen, die sich teilweise noch vor wenigen Stunden fremd waren, die von unterschiedlichen Winkeln der Welt an diesem Ort zusammengefunden haben und die ganz andere Geschichten mit in ihren Herzen tragen; sie unterhalten sich wie alte Bekannte und geniessen gemeinsam das goldene Licht, welches die untergehende Sonne auf die Gesichter der Anwesenden malt. Als das Gold allmählich verblasst und die blaue Stunde naht, verabschiedet sich die Gesellschaft von den beiden überraschten Reisenden; diese sind nämlich bis zu diesem Zeitpunkt davon ausgegangen, dass sie der vergnügten Gruppe noch über Nacht als gute Unterhaltung dienen würden.

Nachdem der letzte Wagen mit winkenden Händen in der Nacht verschwunden ist, wird es still um das Paar. Sie begreifen noch immer nicht ganz, welch Märchenzauber auf sie gefallen ist, sie müssen zuerst verstehen, dass dieses Geschenk bedingungslos ist und somit auch ohne Einschränkung angenommen werden darf. Erst jetzt betreten sie ihr Zimmer, wo gar noch eine Flasche Sekt aus den gutseigenen Reben für sie bereit steht. Sie wird an diesem Abend ungeöffnet bleiben um später im Zuhause der reisenden Bauern nochmals einen Hauch von goldenem Zauber versprühen zu dürfen. Das Paar verlässt noch einmal das Schloss und stärkt sich in der Stadt mit fester Nahrung. Danach saugen sie die Luft der Nacht tief in ihre Lungen und lassen sich erst spät in die weichen Kissen in ihrem Schlossgemach fallen.

Märchenmomente…

Früh am nächsten Morgen sind sie wach. Das Bauernherz ruft die Reisenden an den heimischen Hof, wo sie Hühner und Katzen nun mit greifbar scheinender Ungeduld wartend verspüren. Aber der Traum ist nicht in den edlen Laken des königlichen Bettes zurück geblieben; er widersteht dem enthüllenden Licht des anbrechenden Tages noch eine Weile. Mit kostbaren Köstlichkeiten – oder köstlichen Kostbarkeiten – verwöhnt das Paar seine müden Körper und nach diesem morgendlichen Besuch im Schlaraffenland erkunden die beiden Beschenkten das fantastische Anwesen rund um den Palast. Voller reifer Trauben sind die Hänge und erfüllt mit spätsommerlichem Waldgeruch. Vom Wachturme lassen sie ihre Augen über das weite Land streifen und wissen nun, dass es endlich an der Zeit ist, die weite Reise aus dem Traumland hinaus anzutreten.

 

Das Ende einer Reise

Ein Märchen endet für gewöhnlich mit der Floskel …und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute. Doch die Geschichte geht weiter für unser reisendes Bauernpaar, welches im Mindesten so lebendig ist, wie ihre Erinnerungen an dieses Wahre Märchen aus einem falschen Herbst. Es werden neue Erlebnisse folgen; manche davon dazu bestimmt, zu Lesestoff für das treue Publikum verwoben zu werden. Am Ende ist nun lediglich diese eine Reise, auf welche Sie der Autor mitgenommen hat, der sich aus diesem abstrakten vierten Teil einer Trilogie diskret herausgehalten hat. Er möchte sich aber für Ihre ungebrochene Aufmerksamkeit bedanken und Ihnen einige Zeilen als Abschiedsgeschenk überreichen. José Saramago, ein anderer, von diesem Autor hoch geschätzter Schriftsteller, hat am Schluss seines Buches Die portugiesische Reise verfasst:

Nein, es stimmt nicht. Die Reise geht nie zu Ende. Nur Reisende erleben ein Ende. Und selbst sie können in Memoiren, Berichten, Erzählungen fortdauern. Als der Reisende sich auf den Strand setzt und sagt: Es gibt nichts mehr zu sehen, weiss er, dass es so nicht ist. Das Ende einer Reise ist nur der Anfang einer neuen. Man muss ansehen, was man noch nicht gesehen hat, noch einmal sehen, was man schon gesehen hat, im Frühling sehen, was man im Sommer gesehen hat, tagsüber sehen, was man im Dunkeln gesehen hat, bei Sonne, wenn es beim ersten Mal geregnet hat, die grünen Kornfelder, die reife Frucht, den Stein, der sich verlagert hat, den Schatten, der vorher nicht hier war. Man muss die Wege gehen, die man gegangen ist, sie wiederholen und neue Wege neben ihnen bahnen. Man muss noch einmal zur Reise aufbrechen. Immer wieder.

 

Bilderstrecken:

Kunstmuseum & Stadt Amarante

 

Eine illustre Gesellschaft

 

Märchenschloss & Umgebung

4 Kommentare

  1. Fredi Kuster meint: 3. Januar 2018
  2. Mämeler meint: 31. Dezember 2017
    • Roger meint: 1. Januar 2018
  3. Heinz und Edith meint: 31. Dezember 2017

Eine Antwort hinterlassen