Ab heute gilt in ganz Portugal wieder der Notstand. Das hellseherische Vorpreschen der Regierung in dieser epidemiologisch unbegründeten Entscheidung war völlig untypisch für die ansonsten so gemächlichen Bewohner des kleinen Landes im äussersten Westen Europas. Bei der Kommunikation der damit verbundenen Massnahmen ging es dann aber wieder etwas gemütlicher zu und her. Ganz, wie wir die Portugiesen kennen und im Alltag auch dafür lieben, hiess es „amanhã“ (morgen) und gemeint war damit „irgendwann bald einmal“.

Kurz vor dem Ende der Sommerferien war der Regierung in den Sinn gekommen, dass ja bald die Schule wieder losgeht und viele Portugiesen zurück an den Arbeitsplatz kehren werden. Dies, so versuchten die Verantwortlichen das Volk zu überzeugen, sei eine grosse Gefahr für die Menschen, die das Virus wieder vermehrt verbreiten würden. Insbesondere die Kinder gälte es zu schützen. Man wisse ja noch immer zu wenig über deren Rolle in der Pandemie und überhaupt: „todo cuidado é pouco (alle Vorsicht ist zu wenig). Daran hielt sich die Regierung und so verkündete man am 27. August kurzerhand einen neuerlichen Notstand, der ab heute, dem 15. September, in Kraft treten wird.

Die Bekanntgabe der Massnahmen, mit welchen dieser offenbar schwer vorhersehbaren Situation begegnet werden sollte, wurde zuerst auf den 8. September angesetzt, danach folgte eine Vertröstung auf den Tag darauf. Schliesslich dauerte es bis am vergangenen Donnerstag, dass Premierminister Antonio Costa vor die Kameras trat um das geduldig wartende Volk endlich zu informieren. Erst da, in den kühlen Innenräumen des Palacio de Ajuda, wo die drückende Sommerhitze ausgesperrt bleibt, packte den Staatsmann wieder der Eifer. Nach einer eiligen Rede und einigen unmotivierten Fragen der Presseleute setzte er genervt die Maske auf und hetzte aus dem Saal.

Sanfter Entzug der Freiheit?

Was Costa zuvor verkündet hatte, brauchte wohl einige Zeit um von den Zuhörenden verdaut und irgendwie eingeordnet werden zu können. Man hat mit vielem gerechnet, einschliesslich einer generellen Maskenpflicht im Freien. Doch der Katalog der Massnahmen liest sich direkt harmlos für den Grossteil der Bevölkerung, wenngleich diese für einige Direktbetroffene grosse Einschränkungen bedeuten können.

Beispielsweise dürfen kommerzielle Einrichtungen, mit einigen Ausnahmen, nur noch ab 10 Uhr morgens öffnen und müssen – je nach Entscheidung der Bezirke –  zwischen 20 Uhr und 23 Uhr schliessen. Ab 20 Uhr dürfen keine alkoholischen Getränke mehr verkauft werden, ausser in Begleitung einer Mahlzeit. Weiter werden Menschenansammlungen auf maximal 10 Personen reduziert sein. Und in Gastronomiebetrieben im Umkreis von 300 Metern einer Schule dürfen sich Gruppen von maximal 4 Personen einfinden.  Des Weiteren werden besondere Regeln für die Grossräume Lissabon und Porto definiert: Eine Art Rotationsprinzip zwischen Homeoffice und Präsenzarbeit für die Arbeitnehmer soll die Pendlerströme besser verteilen und die Firmen werden verpflichtet, Arbeitsbeginn- und ende ihrer Mitarbeitenden gleitender zu gestalten.

Es soll jetzt aber nicht auf jede Regel einzeln eingegangen werden, sie alle gleichen sich und sind lediglich mal mehr und mal weniger grotesk. Aber eine Massnahme im Speziellen trifft die Volkseele Portugals in ihrem Kern: Ab heute wird auch der Konsum von Alkohol im Freien verboten sein. Wie dies die Ausbreitung des Virus verhindern soll, bleibt das Geheimnis der Regierung. Damit würde wohl glaubhafter die Bekämpfung eines latent vorhandenen Alkoholismus in der Bevölkerung zu rechtfertigen sein. Einen solchen sanften Entzug würden die trinkfreudigen Portugiesen wohl ohne die hochstilisierte Panik vor COVID-19 nicht tolerieren. Aber so ist der Notstand nun mal da – und damit auch die Möglichkeit, zum Beispiel aufgrund steigender Fallzahlen, bald strengere Massnahmen einzuführen. Steht uns in Portugal möglicherweise ein sanfter Entzug der Freiheit bevor?

Die Corona-Ferien gehen zu Ende

Einen ersten Vorgeschmack auf die Tempoverschärfung der Panikmaschinerie erlebte das Land am Dienstag vor einer Woche, als die Zahl der „Neuinfektionen“ plötzlich auf 646 hochgeschnellt war. In den Wochen zuvor bewegte sich die Zahl stets stabil in einem Rahmen zwischen rund 250 und 480 positiven Tests pro Tag, womit sich Portugal bei den meisten anderen europäischen Staaten unter dem Quarantäne-Radar bewegte. Ein Glück, dass die systemrelevante Tourismusindustrie noch eine relativ erfolgreiche Sommersaison durchmachen durfte. Oder war es gar Kalkül? Antonio Costa gibt selbst einen Anhaltspunkt, denn er verkündete stolz, dass an diesem Tag  mit einer Anzahl von 20575 die meisten Corona-Tests während der ganzen Pandemie durchgeführt worden seien und das Niveau in den kommenden Wochen bei rund 21000 Abstrichen pro Tag gehalten werden soll.

Diese eigentlich brisante Information geht unter, während seither die „Fallzahlen“ tatsächlich weiter hoch bleiben. Schon in wenigen Tagen wird Portugal den Schwellenwert für die Schweizer Quarantäneliste erreichen. Mit der angestrebten Testquote wird sich daran gewiss auch nicht mehr viel ändern. Dafür reichen 2,1% positive Tests, die sich ohne weiteres auch in einer gesunden Bevölkerung finden lassen. Während es beim BAG gewöhnlich noch einige Zeit mit der Anpassung dauern wird, haben die Engländer einmal mehr nicht lange gefackelt und das kontinentale Portugal erneut als Risikogebiet eingestuft. Darüber zeigte sich der Präsident der Republik, Marcelo Rebelo de Sousa, erstaunt. Portugal sei doch ein so sicheres Land.

Während also gegen Aussen mit dem Tourismus im Nacken lauthals relativiert wird, herrscht im Inland der Nationalismus der Angst. Denn nur die eigenen Leute brauchen sich scheinbar vor Corona zu fürchten und getrauen sich aufgrund der ständigen Anti-Virus-Propaganda schon seit Monaten nicht, ihre Verwandten zu besuchen oder geschweige denn jetzt Ihre Kinder wieder zur Schule zu schicken. Zur Beruhigung hilft da eigentlich nur noch ein Glas hausgemachter Rotwein – wenigstens in den eigenen vier Wänden darf man diesen ja noch geniessen. Und statt des üblichen Trinkspruchs „Saúde“ (Gesundheit) verwenden wir – um die Prioritäten zu definieren – lieber den Ausdruck „Liberdade“, was so viel heisst wie: Freiheit!

Manuel Kuster

Vale de Prazeres, 15.09.2020

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